Ende des Branchenmindestlohns in Bauindustrie und Bauhandwerk:
IG BAU Berlin ist kampfbereit und rät Beschäftigten, tariflosen Betrieben den Rücken zu kehren
Von Susanne Knütter
Quelle: Berliner Anstoss 02/2022
Nachdem die Kapitalseite den Schlichterspruch zum bundesweiten Branchenmindestlohn abgelehnt hat, haben die Berliner Beschäftigten in tariflosen Bauunternehmen nun zwei Möglichkeiten: Entweder sie fordern die Gewerkschaft Bergbau, Agrar, Umwelt (IG BAU) auf, für ihren Betrieb einen Haustarifvertrag auszuhandeln, oder sie kündigen.
In Anbetracht der wirtschaftlichen Lage sei es heute nicht mehr nötig für Firmen zu arbeiten, die keinen Tariflohn zahlen, sagt Hivzi Kalayci, bei der IG BAU im Bezirk Berlin zuständig für die Bauwirtschaft, im Gespräch mit dem Berliner Anstoß. Am 8. April verweigerten der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) und der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes (ZDB) dem Schiedsspruch des Präsidenten vom Bundessozialgericht, Rainer Schlegel, der bereits frühere Auseinandersetzungen der IG BAU geschlichtet hatte, ihre Zustimmung. In der Begründung der Tarifgemeinschaft hieß es, die vorgeschlagene Erhöhung stelle zum einen »eine nicht zu rechtfertigende Verteuerung einfachster Tätigkeiten im Baugewerbe dar«.
Zum anderen dient die Krise als Ausrede: »Die aktuelle Preisund allgemeine wirtschaftliche Entwicklung lassen wenig Spielraum zu, verlässliche Prognosen sind derzeit nicht möglich«, lautete es in der gemeinsamen Pressemitteilung.
Das sieht die Gewerkschaft anders: Der Bau in Berlin habe volle Auftragsbücher, erinnerte der Bezirksvorsitzende der IG BAU Berlin, Christian Stephan, Anfang April in einer Mitteilung. Für den Neubau von Wohnungen, für Energiesparsanierungen und für seniorengerechte Modernisierungen suchten Unternehmen schon heute händeringend Leute. Es sei ein offenes Geheimnis, dass die Branche auf Zuwanderung dringend angewiesen sei. Der Ruf nach Fachkräften aus dem Ausland werde immer lauter, so Stephan. Gut möglich, dass die Baufirmen auf ein vergrößertes Arbeitskräfteangebot setzen, um höhere Löhne zu umgehen. Zum Kalkül von Kapitalisten gehört diese Erwägung seit jeher.
Mit dem neuen Branchenmindestlohn hätten 30.000 Baubeschäftigte in Berlin ab Mai mindestens 13,45 Euro pro Stunde verdient. Das wären 60 Cent mehr als jetzt gewesen. Im kommenden und und dem darauf folgenden Jahr sollten nochmals 60 Cent dazukommen.
Das sah der Schlichterspruch für den Branchenmindestlohn I, für Werker und Hilfsarbeiter, vor. Nun ist dieser Mindestlohn in Höhe von aktuell 12,85 Euro vorerst eingefroren. Bauarbeiter, die neu eingestellt werden, bekommen allerdings nur den gesetzlichen Mindestlohn in Höhen von derzeit 9,82 Euro. Die IG BAU hatte dem Schlichtervorschlag bereits Ende März zugestimmt. »Um Arbeitsplätze zu sichern und um die Sozialpartnerschaft zu erhalten«, sagt Kalayci. Dabei hatte der Schlichter sogar eine zentrale Forderung der Kapitalseite aufgegriffen. Der Branchenmindestlohn II für Facharbeiter, der in Berlin bei 15,55 Euro (in Westdeutschland bei 15,70 Euro, in Ostdeutschland gibt es gar keinen) liegt, wäre zum Ende des Jahres weggefallen. Von da an sollte er als feste Position im Tarifpaket verhandelt werden. Den Wegfall des Mindestlohns II begründete Schlichter Schlegel laut Kalayci damit, dass es der Zoll so leichter gehabt hätte. Dieser hätte den Mindestlohn II ohnehin nicht mehr kontrolliert.
Nachdem der Branchenmindestlohn an der Bauindustrie gescheitert ist, müssten aus Sicht der Gewerkschaft nun auch viele Neubau und Sanierungsmaßnahmen in Berlin auf der Strecke bleiben. Nämlich genau jene, bei denen Bauarbeiter nur den gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 9,82 Euro und nicht den deutlich höheren Tariflohn bekommen, prophezeite Stephan am 5. April.
Auf dem Markt für Bauaufträge haben jetzt diejenigen Bauunternehmen einen Vorteil, die nicht tarifgebunden sind. Deshalb gab es auch widersprüchliche Reaktionen aus den Landesarbeitgeberverbänden. So hatte die bayerische Bauwirtschaft dem Schlichterspruch zugestimmt, die rheinland-pfälzische hatte ihn abgelehnt. Letztlich ist der erste Baubranchenmindestlohn in der BRD, der vor 25 Jahren eingeführt wurde, der erste, der von Unternehmen beerdigt wird.
Eine Wiederaufnahme der Verhandlungen ist unwahrscheinlich. ZDB und HDB haben zwar Gesprächsbereitschaft signalisiert, allerdings bereits klar gemacht, dass ihnen ein einheitlicher Baumindestlohn von 13 Euro vorschwebt. Das wären gerade einmal 15 Cent über dem zuletzt gültigen.
Nun ist das Bauhauptgewerbe nicht für kräftige Arbeitskämpfe bekannt. Die Branche ist kleinteilig, die Kollegen auf den vielen Baustellen sind schwer zu organisieren. Im Vergleich zu anderen Branchen wird hier oft auf das Mittel der Schlichtung zurückgegriffen. Aber Gewerkschafter Kalayci versicherte gegenüber dem Berliner Anstoß: »Wenn es darauf ankommt, sind wir in der Lage zu streiken.«