In Berlin konzentriert sich das Elend in bestimmten Vierteln
Von Jakob Renard
Quelle: Berliner Anstoss 02/2022
Wer im First-Class-Hotel Estrel im Be zirk Neukölln absteigt, etwa zum Besuch der Münzmesse »World Money Fair«, kann dort, aber höchstwahrscheinlich interessiert ihn das gar nicht, von einer der höheren Etagen, auf eine der ärmsten Gegenden Berlins herabblicken. In direkter Nachbarschaft zum Nobelhotel erstreckt sich die Weiße Siedlung, einige hundert Meter weiter südlich die High-Deck-Siedlung. In keinem anderen Kiez der Stadt liegt die registrierte Erwerbslosigkeit so hoch, nirgendwo sonst innerhalb Berlins ist die Kinderarmut so gravierend wie in diesen sichtbar abgehängten und vergessenen Vierteln.
Die offiziell gültige Statistik führt Kinder dann als arm, wenn sie in Familien leben, die sozialstaatliche Leistungen, also »Hartz IV« beziehen.
In der Weißen Siedlung sind das 67,5 Prozent der Kinder unter 15 Jahren, in der High-Deck-Siedlung 74,7 Prozent – das heißt, drei von vier Kindern, die dort leben, sind arm.
Dokumentiert wird dieses achselzuckend hingenommene Elend regelmäßig im vom Senat in Auftrag gegebenen »Monitoring Soziale Stadtentwicklung«. Der kürzlich vorgelegte Bericht für das Jahr 2021 weist aus, dass sich die Armut in denjenigen Kiezen, deren Bewohner seit Jahren schon jeden Cent umdrehen müssen, infolge der Coronakrise weiter verschärft hat. Im Gegensatz zu den Befunden der vergangenen Jahre fällt dabei auf, dass sich der soziale Status der Menschen dieses Mal vor allem in Teilen der Innenstadt und nicht wie zuvor an den Rändern verschlechtert hat. So stellen die Macher der Studie nicht zuletzt für die Ortsteile Wedding, Moabit, Gesundbrunnen, Kreuzberg und Neukölln eine »konstante Benachteiligung« fest. Der rbb bilanziert ungewohnt deutlich: »Die sozial schwachen Berliner Kieze in Gesundbrunnen und Wedding, Neukölln und Kreuzberg westlich vom Kottbusser Tor verfallen weiter.«
Berlin ist, soll das alles heißen, sozial zerstückelt. In kaum einer anderen Stadt der Republik gibt es eine sozialräumlich so ausgeprägte Segregation. Armut und Reichtum konzentrieren sich jeweils in bestimmten Vierteln, Niedriglohn, Erwerbslosigkeit, Transferbezug und Kinderarmut zeigen in einer ganzen Reihe von Gegenden besonders hohe Quoten. Auf der Grundlage einer Unterteilung in insgesamt 536 »Planungsräume« sind in der Studie 56 von ihnen ermittelt, die »einen sehr niedrigen sozialen Status oder einen niedrigen sozialen Status mit negativer Dynamik aufweisen«. Dazu gehören auch die Weiße Siedlung und die High-Deck-Siedlung. Zusammen mit sieben weiteren aneinander angrenzenden problematischen »Planungsräumen« bilden sie einen Siedlungszusammenhang, in dem knapp 65.000 Menschen leben – eine mittelgroße Stadt, etwa von der Größe Weimars, in der die Armut grassiert.
Der Senat nennt diese Kieze verharmlosend »Gebiete mit besonderem Aufmerksamkeitsbedarf«. Und mit »Aufmerksamkeitsbedarf« ist denn auch die komplette Gleichgültigkeit treffend beschrieben, mit der die Berliner Landespolitik den Problemen seiner Armutsbevölkerung begegnet. Die entsprechende Etikette berechtigt zu einem kümmerlichen Almosen staatlicher Förderung und soll anzeigen, dass hier vielleicht noch ein bisschen mehr Quartiersmanagement nötig sein könnte. Das war’s dann aber auch schon – Elendsverwaltung anstelle ernsthafter Problemlösung, denn die ist gar nicht beabsichtigt.
Selbst das, was bescheiden reformistisch und daher traditionell sozialdemokratisch anmutet, eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, sei es vermöge einer Besteuerung der Vermögenden zugunsten derer, die nichts haben, sei es durch einen wirksamen Mietendeckel, wird politisch abgelehnt oder juristisch abgeräumt. Die Armutskieze bleiben ihrem Schicksal überlassen, während gleichzeitig »Klimaschutz« für Investoren betrieben wird, auf dass die ihr überschüssiges Kapital in Bauprojekte einbringen, die eine weitere Erhöhung des spekulativen Bodenwerts besorgen und so die Mieten in der Umgebung steigen lassen.
Das Estrel erweitert sich derzeit um einen Hotelturm, der bei Fertigstellung das höchste Haus in Berlin sein soll. Im 45. Stock wird sich dann die Misere der Umgebung aus beruhigender Höhe betrachten lassen. Dort oben den Blick schweifend weiß man dann: hier läuft ein schleichender Krieg, nicht gegen die Armut, sondern gegen die Armen.